Sinti*zze in Wiesbaden: Lernen durch Erinnerung
„Die Eltern wollen nicht, dass ein Z* mit ihren Kindern in ihre Klasse geht.“ Sätze wie diese hat Ricardo Lenzi Laubinger als Schulkind häufig gehört, bevor ihn seine Lehrer*innen nach Hause schickten. Heute, als 65-jähriger Mann, ist Laubinger ein gern gesehener Gast an hessischen Schulen. Als Gründer und Vorsitzender der Sinti-Union Hessen klärt Laubinger über die staatliche Verfolgung auf, der Menschen wie er lange Zeit ausgesetzt waren und über die alltägliche Diskriminierung, die Sinti*zze und Rom*nja auch heute noch erfahren – sei es in Medien, bei der Wohnungssuche oder im Schulunterricht.
Laubinger und seine Sinti-Union bieten auch konkrete Unterstützung für Betroffene von antiziganistischer Diskriminierung und Gewalt sowie Begleitung und Betreuung etwa bei der Suche nach Ausbildung und Wohnung oder dem Besuch beim Amt an. Wie viele ehrenamtlich organisierte Vereine in Hessen verfügt auch die Sinti-Union Hessen über keine eigenen Räume für ihre Arbeit. Sein Engagement gegen Diskriminierung und für Teilhabe betreibt Laubinger - wenn er nicht gerade in Schulen unterwegs ist – deshalb von seinem heimischen Schreibtisch aus.
Wer spricht?
Ricardo Lenzi Laubinger wurde 1959 in Wiesbaden geboren. Als Sohn von KZ-Überlebenden hat er schon früh erfahren, wie dünn der Firnis der Zivilisation für Sinti*zze wie ihn in Deutschland ist. Vor seinem ersten Schultag, so erinnert sich Laubinger, nahmen ihn seine Eltern beiseite. Aus Angst vor neuer Verfolgung forderten sie, er dürfe „niemandem erzählen, dass du ein Sinto bist“.
Gleichberechtigung und Teilhabe von Sinti*zze in Wiesbaden, Hessen und Deutschland wurde zu Laubingers Lebensaufgabe. Dabei legte er sich auch immer wieder mit Politik und Behörden an. Gegen viele Widerstände erstritt er, dass Gräber von Sinti*zze denselben Schutz erhalten wie jüdische Grabstätten.
2014 gründete Laubinger die Sinti-Union Hessen – ein Verein, der sich um alle Herausforderungen von Sinti*zze in der Region kümmert: vom Behördengang bis zur Wahrung von Identität und Sprache. 2019 veröffentlichte Laubinger „Und eisig weht der kalte Wind“. In dem Buch erzählt er die Geschichte von Menschen, die sich als Bürger*innen Wiesbadens in einer scheinbar „normalen“ Welt wähnen, die erst Schritt für Schritt, dann aber immer schneller vom Strudel des NS-Vernichtungssystems mitgerissen werden.
Es ist die Geschichte seiner eigenen Familie. Es sei eines der „wichtigsten Bücher, die seit 1945 in Deutschland erschienen sind“. Das sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als er Laubinger 2023 beim Neujahrsempfang im Schloss Bellevue für sein Engagement ehrte.
Mahnmal für die deportierten und ermordeten Sinti und Roma
Seit 1992 erinnert das „Mahnmal für die deportierten und ermordeten Sinti und Roma“ in Wiesbaden an die über 100 Menschen, die im März 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Ricardo Lenzi Laubinger wünscht sich, dass insbesondere viele junge Menschen das Mahnmal besuchen: „Wer das liest, wird dann wahrscheinlich auch sagen, dass sowas nicht mehr passieren darf.“
Idee und Gestaltung des aus Sandstein gehauenen Mahnmals stammen von Josef und Eugen Reinhardt. Erstellt wurde die Arbeit von der Sinti-Werkstatt Albersweiler in der Pfalz. Das Mahnmal steht am Geschwister-Stock-Platz in der Wiesbadener Herbertanlage, nahe der Bahnhofstraße.
Sinti*zze oder Sinti, Roma oder Rom*nja?
Über die Frage, ob und wie „Sinti“ und „Roma“ sich gendern lassen, herrscht auch in den jeweiligen Communitys keine Einigkeit. Manche schreiben „Sinti*zze“ und „Rom*nja“. Andere verweisen darauf, dass „Sinti“ und „Roma“ an sich schon geschlechtsneutrale Bezeichnungen sind. Von Zitaten und Eigennamen abgesehen, haben wir uns auf dieser Website aus Gründen der Einheitlichkeit für die Variante mit dem Stern entschieden.
Doch im Alltag gilt für uns alle: Frage freundlich die Menschen selbst, welche Eigenbezeichnung oder Schreibweise sie bevorzugen. Bestehe aber nicht auf einer Antwort, wenn die so Befragten genervt reagieren – schließlich wird ihnen dieselbe Frage sehr wahrscheinlich zum zigsten Mal gestellt.
Engagement in Hessen
Sinti-Union Hessen e.V.
Seit ihrer Gründung im Jahr 2014 unterstützt die Sinti-Union Hessen Sinti*zze in allen Bereichen des alltäglichen Lebens – etwa bei der Job- und Wohnungssuche, bei Behördengängen und dem Schutz vor Gewalt und Diskriminierung. Außerdem engagiert sich der Verein in der Antidiskriminierungs- und Erinnerungsarbeit und widmet sich der Förderung und dem Schutz der kulturellen Identität und der Sprache der Sinti*zze. Besonderes Anliegen der Sinti-Union Hessen ist es, auch jenen Sinti*zze eine Stimme zu geben, die sich aus Angst vor Diskriminierung nicht öffentlich als solche „outen“ wollen. Die staatliche Registrierung von Sinti*zze und Rom*nja Anfang des 20. Jahrhunderts diente den Nationalsozialisten später als Grundlage für Verfolgung und Vernichtung. Diese systematische Datenerhebung wurde sogar bis in die 80er Jahre hinein in der Bundesrepublik fortgeführt. Erst durch die Proteste der Bürgerrechtsbewegung von Sinti*zze und Rom*nja wurde ihre staatliche Registrierung beendet. Bis heute vermeiden es viele Angehörige der Minderheiten, sich als Sinti*zze oder Rom*nja zu erkennen zu geben. Auch die Sinti Union führt deshalb keine Mitgliederlisten und verlangt keine Mitgliedsbeiträge.
Website: www.sinti-union-hessen.de.rs/
Kontakt: mailsintiunion-hessen.de
Verband Deutscher Sinti & Roma Landesverband Hessen
Der gemeinnützige Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Hessen ist seit 1980 die Interessenvertretung der in Hessen lebenden Sinti*zze und Rom*nja. Zu seinen Aufgaben zählen Beratung in sozialen und bürgerrechtlichen Fragen sowie gesellschaftliche Aufklärung über die Verfolgung der Sinti*zze und Rom*nja und Formen heutigen Antiziganismus`.
Website: sinti-roma-hessen.de/
SiRo - Sinti und Roma in Hessen
Die App bietet Informationen über Orte und Geschichten von Sinti*zze und Rom*nja in Hessen. Auf einer Karte können Standorte ausgewählt und auf Hintergrundinformationen zugegriffen werden. Hier findet sich unter anderem auch das „Mahnmal für die deportierten und ermordeten Sinti und Roma“ in Wiesbaden. Verantwortlich für das Angebot ist der Verband Deutscher Sinti & Roma Landesverband Hessen.
Website: siro-hessen.app
Beratungsstellen und andere hilfreiche Seiten für Sinti*zze und Rom*nja in Hessen
- Der Verband Deutscher Sinti & Roma Landesverband Hessen bietet u.a. Beratung und Unterstützung bei Amtsgängen, Entschädigungsanträgen und Diskriminierung.
Tel.: 06151/377740, E-Mail: verband@sinti-roma-hessen.de.
- Der Förderverein Roma e.V. in Frankfurt am Main ist der Förderverein für Fälle von Antiziganismus in Hessen und ganz Deutschland. Der Verein berät Rom*nja, bietet Orientierung, betreibt eine Kindertagesstätte, hat Programme für Lern- und Familienhilfen und unterstützt insbesondere geflüchtete Rom*nja in Hessen.
Beratungsstellen und andere hilfreiche Seiten für Sinti*zze und Rom*nja in ganz Deutschland
- Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wurde im Februar 1982 gegründet und ist der unabhängige Dachverband von 19 Landes- und Mitgliedsverbänden. Er ist die bürgerrechtliche und politische Interessenvertretung der deutschen Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg.
- Amaro Foro („Unsere Stadt“) ist ein transkultureller Jugendverband von Rom*nja und Nicht-Rom*nja, der sich gegen Antiziganismus und für Teilhabe und Chancengleichheit stark macht. Seine Arbeit umfasst Bildungs- und Freizeitangebote für Jugendliche, konkrete Unterstützung von Betroffenen und Aufklärungsarbeit.
- Amaro Drom („Unser Weg“) ist eine basisdemokratische und interkulturelle Jugendselbstorganisation von Rom*nja und Nicht-Rom*nja. Ihr Ziel ist es, jungen Menschen durch Empowerment, Mobilisierung und Selbstorganisation Räume für politische und gesellschaftliche Beteiligung zu eröffnen. Interessierte können sich bei Geschäftsführerin Merdjan Jakupov melden: merdjan.jakupovamarodrom.de
- Das Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas ist ein Zusammenschluss zahlreicher gesellschaftlicher und kultureller Organisationen, die sich in ihrer Arbeit gegen Antiziganismus wenden. Gemeinsames Ziel ist, auf die Situation der Betroffenen aufmerksam zu machen und Diskriminierung und Rassismus zu bekämpfen.
- Nevo Foro ist eine Anlaufstelle für neu eingewanderte EU-Bürger*innen insbesondere aus Bulgarien und Rumänien. Die Beratung erfolgt kostenlos. Termine können unter 030/610811020 oder 030/610811021 sowie unter anlaufstelleamaroforo.de vereinbart werden. Nevo Foro ist ein Projekt von Amaro Foro.
- ADiBe: Bei Diskriminierung können sich Betroffene an die Antidiskriminierungsberatung ADiBe wenden, dort erhalten sie kostenfreie psychosoziale und juristische Beratung in Diskriminierungsfällen.
- Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma bietet bundesweit telefonische Beratung in den Bereichen der Entschädigung, des Sozialrechts, des Asylrechts und des Staatsangehörigkeitsrechts. Alle notwendigen Kontaktdaten finden sich hier. Das Zentrum bietet außerdem ein Stipendienprogramm für junge Sinti*zze und Rom*nja, die eine akademische Laufbahn anstreben.
- Der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung koordiniert die Maßnahme der Bundesregierung zur Antiziganismusbekämpfung. Betroffene können sich per E-Mail direkt an ihn wenden: Antiziganismusbeauftragterbmfsfj.bund.de
- Die Hildegard Lagrenne Stiftung fördert die Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland. Sowohl Einzelpersonen als auch Vereine können sich an die Stiftung wenden.